Das Thema Long Covid und ME/CFS bekommt aktuell auch in Österreich mehr Gehör. Ich wurde dazu von medinlive, dem Fachportal der Ärztekammer Wien, befragt. Hier ist der Link zum originalen Artikel.
Neurologische Folgen von Covid19
medinlive: Neurologische Komplikationen einer Covid19-Erkrankung: Gibt es tatsächlich so viele neurologische Folgeschäden wie in letzter Zeit kolportiert oder sind das eher Folgen bzw. Begleiterscheinungen systemischer Erkrankungen? Wie ist Ihr Erfahrungswert der letzten Monate?
Michael Stingl: Über die neurologischen Folgen von Covid19 ist von Anfang an heftig spekuliert worden, da sehr viele Betroffene vor allem in der Akutphase entsprechende Symptome haben. Dies reicht von unspezifischen Problemen wie Verwirrtheit und Kopfschmerz bis zu einem Schlaganfall und entzündlichen Nervenerkrankungen.
Inwieweit hier eine direkte Schädigung von Nervengewebe durch den Virus schuld ist, kann noch nicht klar gesagt werden. Generell scheint diese Möglichkeit eher nur in den wenigsten Fällen relevant zu sein, wenn auch ein Virusnachweis in Gehirnautopsien von Verstorbenen immer wieder gelungen ist. Es wurden auch Fälle von Meningoencephalitis beschrieben.
Wesentlich häufiger kommt es zu Problemen mit der Blutgerinnung, was die relative Häufung von Schlaganfällen vor allem bei schwerer Covid19-Infektion erklären kann.
Dazu kann es auch zu immunmediierten Problemen kommen, wo die Überaktivität des Immunsystems zu neurologischen Erkrankungen führen kann. Hier wäre beispielsweise das Guillain-Barré-Syndrom zu nennen, das in einigen Fällen beschrieben wurde.
Generell kann man sagen, dass neurologische Symptome bei ungefähr einem Drittel der Fälle beschrieben wurden. In den meisten Fällen scheinen diese neurologischen Komplikationen aber die Folge der schwereren systemischen Erkrankung gewesen zu sein als ein direkter Schaden von Nervengewebe.
Long Covid
medinlive: Besonders interessant erscheinen mir die Langzeitfolgen im Zuge der so genannten milden Verläufe: Was ist hier derzeit am Häufigsten zu beobachten und welche Ursachen haben diese Folgen? Und was ist der Grund, warum gerade mild Erkrankte so oft Langzeitfolgen entwickeln?
Stingl: Bezüglich dem, was in der Literatur oft als „Long Covid“ bezeichnet wird, muss man meiner Meinung nach drei unterschiedliche Präsentationen unterscheiden. Erstens jene, die durch die Infektion einen konkreten Organschaden, vor allem an Herz und Lunge erlitten haben bzw. wo durch einen Intensivaufenthalt oder einen schweren Verlauf eine körperliche Schwäche entstanden ist.
Zweitens jene, bei denen die Infektion vorbestehende psychische Probleme verstärkt oder neue ausgelöst hat.
Und drittens jene, die ich persönlich am ehesten als Long Covid bezeichnen würde, nämlich die, wo weder ein Organschaden noch eine wesentliche psychische Problematik zu finden ist und trotzdem nach oft mildem Verlauf anhaltende gesundheitliche Einschränkungen vorhanden sind. Ich finde hier sehr oft eine starke Fatigue mit großer Einschränkung der Alltagsaktivität und Verschlechterung des Zustandes nach Überanstrengung, Probleme mit der Kreislaufregulation und kognitive Probleme.
Das sind auch diejenigen Patient*innen, die ich vor allem sehe, da ich mich mit dieser postviralen Fatigue beschäftige. Zunächst würde ich Long Covid nämlich hier zuordnen. Postvirale Fatigue kann nach einer Vielzahl von viralen Infektionen auftreten und ist in den meisten Fällen selbstlimitiert, auch wenn die Genesung oft Wochen bis Monate dauern kann.
Hier ist Covid19 nicht generell anders, auch wenn die Symptomatik wohl heftiger ausfällt als bei vielen anderen postviralen Symptomen. Es wird aber aktuell wesentlich mehr auf das Thema geachtet, weswegen es aufgrund der schieren Anzahl der Betroffenen, auch aus dem medizinischen Bereich, wesentlich mehr auffällt.
Die Daten, wie häufig anhaltende Probleme nach Covid19 sind, sind klarerweise noch sehr ausbaufähig, was vor allem daran liegt, dass noch nicht wirklich viel Zeit seit dem erstmaligen Auftreten vergangen ist. Es scheint aber doch so zu sein, dass bei einem großen Teil der Betroffenen auch nach mehreren Monaten noch Symptome vorhanden sind.
Über die Gründe kann hier nur spekuliert werden. Theorien sind zum Beispiel eine Persistenz des Virus, eine überschießende Immunreaktion auf den Infekt oder auch Autoimmunreaktionen.
Long Covid als mögliche Autoimmunreaktion
medinlive: Stichwort Autoantikörper: Zuletzt gab es aus Yale ein Preprint dazu, dass Covid-Patient*innen diese entwickeln, also das Immunsystem sich wie bei einer Autoimmunerkrankung selbst attackiert. Ist das eine Sars-Cov2-„Spezialität“ oder auch im Rahmen einer „normalen“ Viruserkrankung ohnehin zu beobachten? Oben erwähntes Guillan-Barré-Syndrom ist ja zum Beispiel auch eine Autoimmunerkrankung.
Stingl: Wie gesagt wird bei Covid19 aktuell sehr genau hingeschaut und aufgrund einer durch positiven PCR-Test sehr klaren Falldefinition kann man dann auch solche Studien über Autoantikörper machen. Die wurden in der Akutphase bestimmt, inwieweit das eine spezielle Relevanz hat, wird man sehen, wenn diese Autoantikörper dann auch im Verlauf gemessen und mit konkreten Symptomen korreliert werden.
Autoimmunreaktionen können durch Infektionen ausgelöst werden, das ist die Hypothese. Da wird SARS-CoV2 wohl keine Ausnahme sein. Ein Guillan-Barré-Syndrom etwa ist aber sicher nichts, was jetzt bei Covid19 deutlich häufiger vorkommt als bei anderen Virusinfekten.
Long Covid und ME/CFS
medinlive: ME/CFS, also Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, wurde zuletzt öfters in Zusammenhang mit Long Covid genannt. Wie sehen Sie derzeit den Status dazu? Und: Gerade ME/CFS wird oft kleingeredet, sehen Sie hier auch eine Chance, der Krankheit mehr Gehör zu verschaffen?
Stingl: Zunächst einmal wäre ich vorsichtig, Long Covid und ME/CFS zu sehr gleichzusetzen. Natürlich überschneiden sich viele der Symptome und es ist definitiv denkbar, dass einige Menschen nach Covid19 dann im Verlauf ME/CFS entwickeln werden – bei rund 70 Prozent der an ME/CFS erkrankten Menschen war eine Infektion der Auslöser.
Aktuell ist aber wohl bei den meisten Betroffenen davon auszugehen, dass sich die Symptome, analog zu anderen postviralen Fatigue-Syndromen, wieder bessern werden.
Natürlich wäre es zu begrüßen, wenn durch Long Covid, das in meiner Erfahrung aktuell von Versicherungsträgern durchaus als Diagnose akzeptiert wird, auch mehr Verständnis für andere postvirale Syndrome wie ME/CFS entstehen würde.
Die Betroffenen werden nämlich oft falsch als psychosomatisch diagnostiziert, was dann eine teilweise kontraproduktive Therapie nach sich zieht. Natürlich ist es in Abwesenheit eines klaren Biomarkers aber schwer, zu 100 Prozent sicher zu sein.
Aber einerseits gibt es doch Auffälligkeiten in der Abklärung, die man sehr häufig findet. Und andererseits ist es durchaus denkbar, dass die Beforschung von Long Covid, für die zumindest in den USA ordentlich Geld in die Hand genommen wird, auch für ME/CFS neue Erkenntnisse bringen wird.
Generell wäre aber aus meiner Sicht folgender Punkt immens wichtig: Wenn Patient*innen, vor allem in den ersten Monaten nach Infekt, beschreiben, dass das Überschreiten der Energiegrenze durch Aktivität zu einer Verschlechterung des Zustandes führt, dann sollte dies auch beachtet und nicht ein ständiges „Drübergehen“ forciert werden. Das kann dann nämlich zu lange anhaltenden Folgen führen.