ME/CFS

ME/CFS

ME/CFS ist massiv beeinträchtigend

ME/CFS (Myalgische Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome) ist ein klinisches Krankheitsbild mit einer Vielzahl von massiv einschränkenden Symptomen. Im Vordergrund steht eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, durch die sogar banale Aktivitäten mit einer deutlichen Verschlechterung des Allgemeinzustandes verbunden sind.

Diese sogenannte Post Exertional Malaise (PEM) schränkt die Alltagsfunktion der Betroffenen ein. Die meisten können keinen Beruf mehr ausüben. Viele werden bettlägerig.


ME/CFS wird oft falsch diagnostiziert

Ein verlässlicher Biomarker, also beispielsweise ein Laborwert, mit dem ME/CFS eindeutig belegt werden kann, ist nach wie vor nicht vorhanden. Das führt für viele Betroffene zu einem Spießrutenlauf durch das Medizin- und Versicherungssystem.

Ich beschäftige mich seit 2017 intensiv mit diesem Thema. Ich habe in diesem Zeitraum an die 500 Betroffene kennen gelernt. Im Grunde erzählen alle die gleiche Geschichte, wenn auch die Details oft variieren.

Ich bin klinisch tätiger Arzt, ich publiziere nicht zum Thema. Dennoch maße ich mir diese kleine „Polemik“ zum Thema an. Unter anderem auch deswegen, weil ME/CFS und die davon betroffenen weiterhin auf so viel Unverständnis treffen. Und dabei geht es nicht nur um das Stellen einer falschen, oft psychosomatischen, Diagnose. Es geht vor allem darum, dass diese falsche Diagnose und die damit verbundenen Behandlungen den Zustand noch zusätzlich verschlechtern können.

ME/CFS ist keine psychosomatische Erkrankung. Die WHO codiert ME/CFS im Bereich der Neurologie (ICD-10: G93.3; ICD-11: 8E49). Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) beschreibt ME/CFS als somatische Erkrankung. Zuletzt, im Zusammenhang mit protrahierten Covid-19-Verläufen, hat auch die World Federation of Neurology auf die Problematik von ME/CFS hingewiesen.

Das sind anerkannte Organisationen, denen man einen Hang zur Esoterik sicher nicht nachsagen kann.


Die Ursachen sind unklar

Dass über die Grundlagen von ME/CFS so wenig bekannt ist, ist nicht die Schuld der Betroffenen. Es ist eigentlich unverständlich, dass man sich beharrlich auf fehlende wissenschaftliche Evidenz beruft, aber nicht bereit ist, die vorhandene Literatur zur Kenntnis zu nehmen.

Studien zu ME/CFS werden so gut wie nie in führenden medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Das hat nicht zwingend etwas mit mangelnder Qualität zu tun, sondern ist durchaus auch Ausdruck dessen, dass das Thema nicht als hochwertig betrachtet wird. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Evidenz zu ME/CFS automatisch keine gute Qualität hat.

Weil man mit dem Thema nicht in den hoch angesehenen Fachzeitschriften unterkommt, beschäftigen sich klarerweise auch weniger Wissenschaftler*innen damit. So entsteht ein Teufelskreis mit quasi selbsterfüllender Prophezeiung.


Zu wenig Geld für Forschung

Zusätzlich ist die Forschung an ME/CFS weiterhin massiv unterfinanziert. Das Europäischen Parlament hat das am 18.6.2020 thematisiert. Es wurde eine Resolution angenommen, die die Europäische Kommission unter anderem zu einer besseren Finanzierung von Forschungsprojekten zum Thema ME/CFS auffordert.

Auch, wenn über die genauen Grundlagen von ME/CFS noch viel zu wenig bekannt ist – genauso schlimm ist es, dass Fakten, die bereits am Tisch liegen, ebenso ignoriert werden wie die Schilderung des Krankheitserlebens durch die Betroffenen selber.


Oft typischer Verlauf von ME/CFS

Bei vielen kommt es zu einem typischen Verlauf mit Beginn nach einer Infektion. Charakteristisch ist die Zustandsverschlechterung nach körperlicher Aktivität. Viele Betroffene versuchen, entsprechend ärztlichem Rat, ihren Zustand durch Aktivität zu verbessern – genau das Gegenteil tritt aber ein. Mittlerweile hat auch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) im Vereinigten Königreich auf die Notwendigkeit für Pacing, also die an die Belastungsgrenzen adaptierte Aktivierung, bei postviraler Fatigue hingewiesen.

ME/CFS ist möglicherweise eine Autoimmunreaktion. Es wurden von einer Arbeitsgruppe an der Charité Berlin Autoantikörper beschrieben, die bei ME/CFS vorkommen können.

Diese Autoantikörper können hypothetisch eine Vielzahl der vorhandenen Symptome erklären.


Mögliche virale Ursache

Eine andere Hypothese ist ein Virusinfekt. Dies wurde zuletzt für HHV6 aufgearbeitet. In der publizierten Studie wurde gezeigt, dass es zu einer direkten Schädigung der Mitochondrien, also der Zellkraftwerke, der infizierten Zellen kommt, dass aber auch generell eine Reduktion der Energieproduktion in nicht befallenen Zellen eingeleitet wird.

Viele Betroffene haben einen Immundefekt. Dieser kann ebenfalls sehr schwerwiegende Folgen haben.

Zusätzlich besteht bei vielen Betroffenen der klinische Verdacht auf autonome Funktionsstörung. Das autonome Nervensystem ist jener Teil des Nervensystems, der nicht willentlich beeinflusst werden kann und der unter anderem für die Steuerung von Kreislauf- und Verdauungsfunktion verantwortlich ist.

Nach entsprechenden Symptomen muss man oft gezielt fragen und dann auch diagnostische Konsequenzen ziehen.

Das wird leider oft verabsäumt. Dabei reichen oft recht simple Tests, wie ein Schellong-Test/NASA Lean Test oder das Überprüfen der Temperaturwahrnehmung, um dann zielgerichtet weiter abklären zu können.


Häufige Probleme der Kreislaufregulation

Gerade Probleme mit der Kreislaufregulation, also der Orthostase, kann man gut objektivieren. Bei vielen Betroffenen bemerkt man dann eine orthostatische Hypotension, also ein Abfallen des Blutdrucks im Stehen, oder ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS), also einen massiven Anstieg der Herzfrequenz im Stehen, jeweils begleitet von Symptomen wie Schwindel, Schwäche und teilweise auch Kollapsneigung.

Häufig findet sich dann in einer Hautbiopsie auch eine Small Fiber Neuropathie (SFN). Die Small Fibers sind jene feinen Nervenzellen, die für das autonome Nervensystem relevant sind. Sie können mit der Nervenleitgeschwindigkeit nicht beurteilt werden. Eine SFN wird also oft übersehen.


Häufige Fehldiagnosen bei ME/CFS

Ich sehe einfach zu viele Patient*innen, wo eine psychosomatische Diagnose gestellt wurde, aber nicht ausreichend körperlich abgeklärt wurde. Diese Menschen machen bei empfohlenen Therapien mit, sie wollen ja eine Besserung ihres Zustandes.

Das Problem ist aber, dass diese psychiatrischen Therapien zwar durchaus den Umgang mit der Situation oder die daraus entstandene Depression besser machen können, nicht aber die körperliche Erschöpfung. Oft wird diese, beispielsweise bei Überaktivierung auf psychosomatischer Reha, sogar noch schlechter. Dieser Aspekt wird offenbar so gut wie nie hinterfragt.

Ich habe schon so viele Menschen mit psychiatrischer Diagnose gesehen, wo sich nach hartnäckiger Abklärung dann sogar mehrere Ursachen für die körperlichen Symptome ergeben haben – und wo dann eine entsprechende symptomatische Therapie dieser Symptome zu einer Verbesserung des Zustandes geführt hat.

Auch wenn die Ursache von beispielsweise POTS oder SFN oft unklar bleibt – es ist schon wichtig, diese Erkrankungen überhaupt zu finden!


„Hoffnung“ Covid-19

Momentan ist die Behandlung von ME/CFS und den Erkrankungen, die damit in Verbindung stehen, oft nur symptomatisch möglich. Gerade angesichts der langen Covid-19-Verläufe muss jetzt unbedingt die Chance ergriffen werden, mehr über die Mechanismen von postviraler Fatigue herauszufinden.

Das ist man all jenen Menschen schuldig, die über die letzten Jahrzehnte nicht nur falsch behandelt wurden, sondern auch mit dem ständigen Unverständnis im medizinischen System leben mussten.